HINBEWEGUNG, WEGBEWEGUNG – PRIMÄRE, SEKUNDÄRE,
ÜBERNOMMENE GEFÜHLE UND META-GEFÜHLE
Wenn wir auf der Suche nach relevanten Ereignissen und Personen innerhalb des Familiensystems die Zusammenhänge von Sympto men und psychischen Strukturen des Klienten näher betrachten, können wir als diagnostische Hinweise zwei unterschiedliche innere Bewegungen beobachten, nämlich die der Hinbewegung und die der Wegbewegung. Diese Bewegungen entsprechen den meist früh erlernten Strukturen in der Begegnung mit den Menschen und der Bewältigung dieser Begegnung, die wir uns im Rahmen unserer Familie und der eigenen biographischen Entwicklung angeeignet haben.
Sie sind für die Fähigkeit, in der Welt zu sein, von ausschlaggebender Bedeutung und stehen in einer Wechselwirkung mit den Gefühlen, die sie hervorrufen und beeinflussen. Im Gespräch mit dem Klienten können wir uns von Anfang an, also bereits bei der Beschreibung der Symptomatik, fragen, in welcher Bewegung er sich vorrangig befindet und ebenso, zu welchen inneren Bewegungen er bereit ist.
HINBEWEGUNG
Unter „Hinbewegung“ können wir ein Interesse an der Welt, auf anderer Ebene die Zuwendung zum Leben und als unbewusste oder absichtlich eingenommene Haltung eine innere Offenheit verstehen. Wir können die Hinbewegung als primäre Bewegung beschreiben, die auf die Begegnung mit Personen und Objekten ausgerichtet ist. Sie hat die Funktion, mit allem, was zum Leben und Überleben notwendig ist, in Kontakt zu kommen und zu bleiben. Dem Muster der Hinbewegung entsprechen die so genannten primären Gefühle, und der körperliche Zustand ist gekennzeichnet von Entspannung, Be-
weglichkeit sowie spontanen und situationsangemessenen Reaktionen. Die Grundhaltung ist von Interesse und Zustimmung geprägt und stellt ein grundsätzliches Ja zur Welt dar. In diesem Sinne ist sie stärkend, lebenserhaltend und führt die Person weiter auf Ihrem Weg.
WEGBEWEGUNG
Unter „Wegbewegung“ kann man jede Art von Rückzug verstehen, in welchem der Klient sich innerlich abwendet und verschließt. Dies dient ihm vor allem dazu, sich in einer Situation zu schützen, der er anders nicht begegnen könnte und die er anders nicht bewältigen kann. Körperlich erkennbar ist die innere Wegbewegung durch chronische Spannungen, kognitiv oft durch Vorstellungen und Konzepte, wie es sein sollte, nicht wie es der Situation tatsächlich entspricht. Es zeigt sich oft ein Muster yon Verweigerung, Ablehnung und Abwehr oder eine beständige Bereitschaft zu Auseinandersetzungen, was als mehr oder weniger aktive Strategie verständlich ist, einen persönlichen Bereich nach außen abzugrenzen. „Sekundäre
Gefühle“ runden das Bild ab. Die gesamte Haltung des Klienten entspricht einem Nein. Diese Haltung oder dieses Muster des Rückzugs ist das Ergebnis der Erfahrungen des Klienten, die er sich früh angeeignet hat, sofern er nicht nach dieser frühkindlichen Prägungsphase der ersten Lebensjahre massiven Traumatisierungen ausgesetzt war, die dann eine ursprünglich lebensbejahende Grundstruktur erschüttert und verändert haben.
Aus der Entwicklungspsychologie wissen wir, dass ein Kind sehr früh beginnt zu kommunizieren, gleich nach der Geburt – oder
womöglich schon davor. Die Phase, in der das Kind für grundlegende Prägungen offen ist, endet nach Bowlby (vgl. Trautner 1978) bereits in einem Alter von etwa drei Jahren. Die in dieser Zeit erlernten Muster sind sehr stabil, doch nicht irreversibel. Eine psychotherapeutische Behandlung dient einem Neulernen funktionaler, also angemessener, sinnvoller und hilfreicher Muster. Während meines Psychologiestudiums zeigte uns der Professor der Entwicklungspsychologie einen Film mit folgenden bekannten „ Still face“‚-Versuchen nach Brazelton. In mehreren Sequenzen wurde die Kommunikation zwischen Mutter und Kind gezeigt (Brazelton u. Cramer 1991). Die Kamera ist auf das noch kleine Kind gerichtet, das mit sei-
nen wenigen Monaten in einer Babyschale halb sitzt, halb liegt. Daneben steht ein Spiegel, in dem das Gesicht der Mutter zu sehen ist, so dass beide im Blickfeld des Beobachters sind.
Als der Film beginnt, tritt die Mutter zum Kind, und es lacht. Im ersten Versuch reagiert die Mutter auf das Kind, lächelt zurück, wendet sich ihm zu, fasst es an. Das Baby ist entzückt, lacht und gibt vergnügte Töne von sich.
Im zweiten Versuch tritt die Mutter zum Kind, das wiederum lacht. Doch war in diesem Versuch die Anweisung für die Mutter,
nicht auf das Kind zu reagieren. Sie schaut das Kind reglos und ohne freundliches Erkennen an (still face = unbewegliches Gesicht). Das Baby lacht und streckt sich der Mutter entgegen, doch diese reagiert nicht. Das Kind unternimmt einen weiteren Versuch, der Blick wird unruhig. Als die Mutter wieder nicht auf das Baby eingeht, gerät es zusehends in Spannung und in motorische Unruhe. Schließlich wendet es den Blick ab und erschlafft körperlich mit fragendem Blick zur Mutter oder beginnt zu weinen und zu schreien.
Diese Filmsequenzen dauerten jeweils wenige Minuten. Weitere Untersuchungen zeigten, dass sich die Beziehung vom Kind zur Mutter rasch wieder normalisiert, wenn die Mutter dem Kind wieder dauerhaft freundlich und zugewandt gegenübertritt. Nach erstem Misstrauen wendet sich das Kind bald wieder offen der Mutter zu. Wenn die Zurückweisung des Kindes durch die Mutter jedoch ein konstantes Muster ist – und wie sich in Brazeltons Untersuchungen gezeigt hat, liegen diesem Verhalten der Mütter ihre Erfahrungen mit den eigenen Müttern zugrunde -, so bleibt das Kind im Zustand von Spannung und Resignation.
SYMPTOME SIND RICHTIG
Wir können die Symptome und Fehler, über die der Klient klagt, sein unangemessenes Verhalten und die unverständlichen Gefühle, die ihn irritieren und plagen, als sinnvolle Symbolisierungen verstehen.
Sie sind immer „richtig“. Im passenden Kontext wird verständlich, warum der Klient so handelt oder fühlt. Wir sehen das Negativ, wie beim Bronzeguss eines Reliefs, und schließen daraus, wie das Positiv ausgesehen haben muss. Das Symptom ist in diesem Sinne der Schlüssel für die fehlenden Informationen. Für den Klienten ist das Symptom störend und belastend. Er fühlt sich dafür verantwortlich und macht sich Vorwürfe, wenn er es nicht unter Kontrolle bringen kann. Es stellt sich als eine große Erleichterung dar, wenn diese Symptome endlich einen Sinn ergeben oder durch systemische Einsichten eine andere Bedeutung gewinnen.
Wenn in einer aktuellen Situation ein Symptom oder Gefühl auftritt, das aus dem Familiensystem übernommen wurde, so gehen wir davon aus, dass es in Qualität und Ausmaß „richtig“ ist, nicht jedoch die Zeit und die Konstellation, in der es sich zeigt. Es sieht so aus, als ob es zu einer anderen Person gehöre. Die wichtigen Fragen für ein neues Verständnis des Symptoms sind nun: Wie ist es zu deuten, in welchem Kontext macht es Sinn und welcher Situation und
Person im System des Klienten können wir es zuordnen?